» Pfarrer Stefan Korn
Es lebte einmal ein Riese. Sein Name war Ophorus. Er war bärenstark. Brauchte er einen Wanderstock, riss er einen Baumstamm aus. Er hatte sich in den Kopf gesetzt, nur dem mächtigsten Herrn dieser Erde zu dienen. „Du musst nach Osten gehen“, sagten die Leute. „Dort, wo die Sonne aufgeht, wirst du ihn finden.“
Im Osten war das Reich des Ataxerxes. Er war der mächtigste Herr der Erde. Die Menschen in seinem Lande waren so viele, dass man sie nicht zählen konnte. Er befehligte 200.000 Reiter. Nach vielen Tagen und Wochen kam Ophorus in das Reich des Ataxerxes. Der König nahm ihn mit Freuden auf. Er machte ihn gleich zum Anführer seines Heeres. Sahen die Feinde den Riesen, ergriffen sie vor Schrecken die Flucht. Viele Jahre wagten sie nicht mehr, in das Reich des Königs einzufallen. Nach langer Zeit bedrohte wieder ein feindliches Heer den König. Zugleich zog ein gewaltiges Gewitter auf. Blitze zuckten hernieder. Dunkle Wolken verdeckten die Sonne. Der König sah zum Himmel und rief voll Angst: „Ein böses Zeichen! Wir sind verloren. Die Feinde werden siegen.“ Der Riese spürte: „Der König ist doch nicht der mächtigste Herr der Erde.“ So nahm er Abschied. Ophorus suchte weiter. „Der böse Geist“, sagten einige, ist der mächtigste Herr der Erde.“ „Wo finde ich ihn?“ fragte der Riese. „Überall, wo Böses geschieht“, sagten sie. Ophorus diente nun dem Bösen.
Eines Tages kamen sie an einem Wegkreuz vorbei. Da fing der Böse an zu zittern. Er wagte nicht, dem Gekreuzigten in das Gesicht zu schauen. Ophorus spürte: Der Mann am Kreuz ist stärker als der Böse. Ophorus wollte nun den Gekreuzigten suchen und ihm dienen. Aber die Suche gestaltete sich schwierig. Ein alter Mann sagte: „Hier fließt ein reißender Fluss. Kein Schiff kann ihn überqueren. Du aber bist groß und stark. Du kannst die Menschen hinübertragen. Gehe und warte. Er wird dir am Fluss begegnen.“ Da setzte sich der Riese ans Ufer und wartete. Er wartete und trug die Menschen über den Fluss. Eines Nachts hörte der Riese eine Stimme: „Ophorus, komm und setz mich über!“ Er schaute über den Fluss und wunderte sich sehr. Ein kleines Kind stand am anderen Ufer. „Nur ein Kind“, dachte Ophorus und hob es auf seine Schultern. Dann stieg er in den Fluss. Je weiter er aber schritt, desto schwerer wurde ihm die Last. Dem Riesen war es, als trüge er Himmel und Erde zugleich auf seinen Schultern. Das Wasser stieg immer höher. Ophorus hatte große Angst, er müsse ertrinken. Da plötzlich gingen ihm die Augen auf. Er erkannte im Kind den Größten und Mächtigsten, den Herrn über Himmel und Erde. Am anderen Ufer setzte Ophorus das Kind behutsam nieder. Es schaute ihn an und sagte: „Ich gebe dir einen neuen Namen. Du sollst nicht mehr Ophorus heißen, sondern Christophorus. Das heißt: Der, der Christus trägt.“ Warum ich Ihnen diese Geschichte erzähle? Weil auch in der Salvatorkirche einst eine Figur des Christophorus an die Wand gemalt wurde. Auf einer der Säulen in der Vierung. Übergroß. Farbig. Jahrzehnte war die Wand aber übertüncht mit weißer Kalk-Farbe! 1883 wurde ein neuer Anstrich in der gesamten Kirche nötig, da der alte Anstrich im Laufe der Jahrzehnte schmutzig geworden war. Bei diesen Arbeiten entdeckte man unter der Kalkschicht einige der alten Deckengemälden, etwa Engel, eine Jesusdarstellung (Salvator) und an diesem Pfeiler das Christophorusbild. Darüber der in lateinischer Sprache geschriebener Spruch: „Wer das Angesicht des hl. Christophorus anschaut, wird an jenem Tage von keiner Schwäche übermannt….“. Unter dem Bild stand noch geschrieben: „Heiliger Christophorus, du hast so große Tugenden. Wer dich frühmorgens sieht, ist noch des Abends froh.“ Mit Schutzpatronen und Heiligen ist das so eine Sache für uns Evangelische. Evangelische Christen verehren keine Heiligen oder Figuren. Aber in einer wichtigen evangelischen Bekenntnisschrift heißt es, dass wir Evangelische durchaus uns an heilige Menschen erinnern können. Man soll der Heiligen gedenken, weil sie Vorbilder christlichen Glaubens und Lebens seien. Christophorus ist für mich Sinnbild für den glaubenden Menschen auf seiner Reise durchs Leben. Er trägt Christus auf der Schulter. Er nimmt ihn sozusagen mit auf die Reise über Land und über Fluss. Vor allem aber über Fluss. Das Bild des Flusses steht für eine Lebensaufgabe von uns allen: für das Loslassen, auch für Umbruch, manchmal auch für Einbruch und Krise. Mein Leben ist im Fluss. So wie ein Fluss sich stetig weiter nach vorne windet, so mein Leben. Es gibt keinen Stillstand, das Leben fließt. Es verändert sich ständig wie der Fluss sein Flussbett ändert und wechselt. Mittendrin der Mensch. Durch den Fluss ziehen wie Christophorus, der exemplarische Mensch, der beispielhafte Mensch des Glaubens. Er tat es immer wieder, durch das Wasser gehen. Das heißt, im Leben Dinge hergeben zu lernen, freiwillig etwas fortziehen zu lassen im Fluss der Lebenszeit. Es ist alles in Bewegung, ich kann nichts behalten. Zur richtigen Zeit müssen wir in jedem Lebensabschnitt etwas hinter uns lassen. Unsere Kindheitsstrategien, die wir als Kind hilfreich fanden, oder die wir uns angeeignet haben, um mit den Eltern klar zu kommen, uns aber im Erwachsenenalter hinderlich sein können. Unsere Jugend müssen wir irgendwann loslassen. Die kommende Herbstzeit steht für Veränderung. Die Fähigkeit, Kinder zu bekommen, ist irgendwann vorbei. Abschied nehmen vom Nestbauen. Wenn wir etwas hinter uns lassen können, erst dann ist der Blick frei, zu schauen, welche Aufgaben das Leben noch für uns bereithält.
Zum Titelbild
Auch das Tielbild der vorliegenden Herbstausgabe ist gestaltet von David Lehmann. Erkennen Sie die Jahreslosung „Prüft alles und behaltet das Gute”? Mich erinnert das an die Bücher, die vor vielen Jahre „in” waren, in denen sich Bilder befanden, auf denen man bei längerer konzentrierter Betrachtung plötzlich eine räumliche Tiefe im Bild entdecken konnte, die physikalisch nicht vorhanden ist. Das nennt man „Stereoskopie”, umgangssprachlich als „3D“ bezeichnet, obwohl es sich nur um zweidimensionale Abbildungen (2D) handelt, die einen räumlichen Eindruck vermitteln. Diese Technik ist beim Titelbild nicht angewendet worden, dort ist es so, dass in den Buchstaben das Bild leicht versetzt abgebildet ist und durch diesen „Versatz” können Sie die Jahreslosung hoffentlich entdecken. Viel Spaß beim Suchen und einen goldenen Herbst wünscht Ihnen das Redaktionsteam